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VG Berlin § 41 Abs. 3a SchulG offensichtlich verfassungswidrig

Berliner Baer

VG Berlin: Ruhen der Schulpflicht nach § 41 Abs. 3a SchulG „offensichtlich verfassungswidrig“

Der Fall:
Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) hatte durch die Schulaufsicht Tempelhof-Schöneberg einen 10jährigen Schüler mit Förderbedarf Autismus auf unabsehbare Zeit vom Schulunterricht ausgeschlossen, weil er sich „eigen- und fremdgefährdend“ verhalten habe. Gegen den Bescheid reichten wir als anwaltliche Vertreter für das Kind und seine Eltern vor dem Verwaltungsgericht Klage ein und beantragten die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage.

Unsere Argumente:
Bereits die Rechtsgrundlage im Berliner Schulgesetz, § 41 Abs. 3a, ist verfassungswidrig, da die Norm weder Zweck noch Tatbestand hinreichend erkennen lässt und somit gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot verstößt. Zum anderen greift der Schulausschluss ohne alternative Beschulungsangebote unverhältnismäßig in das Grundrecht auf schulische Bildung ein.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. April 2024, VG 3 L 208/24:
Die 3. Kammer hat unsere Auffassung bestätigt und dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung stattgegeben. § 41 Abs. 3a SchulG sei „offensichtlich verfasungswidrig“, das Klageverfahren soll daher ausgesetzt und und die Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden.

Ergebnis:
Unser Mandant kann ab sofort wieder die Schule besuchen.

Aus den Gründen:

[...] II.

Der Antrag hat Erfolg.

Er ist gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 5 Satz 1 Fall 2 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist auch in der Sache begründet.

Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung ergibt, dass das Interesse der Antragsteller, von dem vorläufigen Vollzug mit der Folge des Ausschlusses von der weiteren Beschulung verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angeordneten Ruhens der Schulbesuchspflicht überwiegt. Die gegen den Bescheid vom 5. März 2024 erhobene Klage wird voraussichtlich zu einer verfassungsgerichtlichen Vorlage führen, da die für sofort vollziehbar erklärte Anordnung des Ruhens der Schulbesuchspflicht des Antragstellers zu 1 nach Ansicht der Kammer mit § 41 Abs. 3a SchuIG auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruht, daher rechtswidrig ist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt.

Die angefochtene Entscheidung ist auf der Grundlage des § 41 Abs. 3a Satz 1 des Schulgesetzes für das Land Berlin vom 26. Januar 2004 in der Fassung vom 4. Oktober 2023 (GVBI. S. 335) ergangen. Diese Vorschrift wurde mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 27. September 2021 (GVBI. 1125) eingeführt. Danach kann für Schülerinnen und Schüler die Schulbesuchspflicht vorübergehend ganz oder teilweise ruhen (Satz 1). Hierüber entscheidet die Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Klassenkonferenz und auf Grundlage einer Stellungnahme des SIBUZ nach Anhörung der Schülerin oder des Schülers und seiner oder ihrer Erziehungsberechtigten (Satz 2). Die Vertreterinnen und Vertreter der Schülerinnen und Schüler sowie der Erziehungsberechtigten nehmen an den Beratungen nur teil, wenn die betroffene Schülerin oder der betroffene Schüler und ihre oder seine Erziehungsberechtigten dies wünschen (Satz 3). Die Entscheidung ist durch die Schulaufsichtsbehörde spätestens nach drei Monaten erstmalig zu überprüfen (Satz 4). Über die Teilnahme an temporären alternativen Bildungs- und Erziehungsangeboten entscheidet die Schulaufsichtsbehörde mit Zustimmung der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Erziehungsberechtigten (Satz 5).

Die in § 41 Abs. 3a Satz 1 und 2 enthaltene Ermächtigung der Schulaufsichtsbehörde, das Ruhen der Schulbesuchspflicht anzuordnen, hält aller Voraussicht nach einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand, weil sie keine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage für den erheblichen Grundrechtseingriff bildet, der mit dem angeordneten Ruhen der Schulbesuchspflicht für den Antragsteller zu 1 und den damit verbundenen vorübergehenden Ausschluss vom Schulunterricht einhergeht.

Das Ruhen der Schulbesuchspflicht stellt aufgrund des damit verbundenen zeitweiligen Ausschlusses des Schülers vom Schulleben gegen dessen Willen und gegen den Willen der Erziehungsberechtigten einen erheblichen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Recht des Schülers auf Bildung und die hiermit verbundene, grundsätzlich verpflichtende Teilhabe am Schulunterricht dar. Schüler kommen, wenn sie am Unterricht teilnehmen, nicht nur ihrer Schulpflicht nach, sondern üben zugleich ihr nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 der Verfassung von Berlin geschütztes (sowie in § 2 Abs. 1 und 2 SchuIG einfachgesetzlich ausgestaltetes) Recht aus, ihre Persönlichkeit mithilfe schulischer Bildung frei zu entfalten. Wird diese spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt, so liegt darin - wie bei Beeinträchtigungen anderer Grundrechte auch - ein Eingriff, gegen den sich Schüler wenden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 971 u.a. - juris Rn. 62), so insbesondere bei belastenden Ordnungsmaßnahmen wie dem Schulausschluss wegen Störung des Schulfriedens (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 971 u.a.- a.a.O., Rn. 63; BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 1976 - 1 BvR 2325/73 BVerfGE 41, 251, 261 f., 264).

§ 41 Abs. 3a SchuIG bestimmt in Satz 1 zwar ausdrücklich nur das Ruhen der „Pflicht“ zum Schulbesuch und lässt damit seinem Wortlaut nach offen, ob davon auch das Recht des Schülers auf Schulbesuch betroffen sein soll. Aus der Gesamtregelung des § 41 Abs. 3a SchuIG lässt sich jedoch schließen, dass die Entscheidung darüber, ob der betroffene Schüler weiterhin den Unterricht besuchen darf, nicht ihm oder seinen Erziehungsberechtigten Vorbehalten bleibt, sondern das Ruhen - jedenfalls auch - ohne oder gegen deren Willen möglich sein soll. Hierfür spricht nicht nur die der Schulaufsicht eröffnete Entscheidungsbefugnis unter Beteiligung des SIBUZ, sondern auch Satz 5 der Norm, wonach die Schulaufsichtsbehörde über die Teilnahme an temporären alternativen Bildungs- und Erziehungsangeboten während des Ruhens mit Zustimmung der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Erziehungsberechtigten entscheidet. Der Sinn einer solchen Regelung erschlösse sich nicht, wenn der Schüler trotz Ruhens seiner Schulbesuchspflicht die Schule aus freien Stücken weiter besuchen und sich für das ihm verwehrte Bildungs- und Erziehungsangebot entscheiden könnte. Zudem umfasst die Maßnahme laut Bescheid vom 5. März 2024 sowohl die Teilnahme am Unterricht als auch an der ergänzenden Förderung und Betreuung und lässt damit erkennen, dass mit dem „Ruhen“ ein Teilnahmeverbot zu Lasten des Antragstellers zu 1 ausgesprochen wird.

Handelt es sich somit bei dem Ruhen der Schulbesuchspflicht um einen hoheitlichen Eingriff in das verfassungsmäßig geschützte Recht des Schülers auf Schulteilhabe, so verlangt der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Normenbestimmtheit (vgl. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 103. EL Januar 2024, Art 20 Rn. 58 ff.), dass die Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte anhand dieser Maßstäbe eine wirksame Rechtskontrolle vornehmen können. Der Gesetzgeber ist dabei gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 26. April 2022 - 1 BvR 1619/17 -, juris Rn. 272; BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 -, juris Rn. 105). Der Bestimmtheitsgrundsatz richtet sich an den Gesetzgeber, der die wesentlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit und die Reichweite eines Grundrechtseingriffs selbst treffen muss. Er hat den Anlass, den Zweck und die Grenzen des Eingriffs bereichsspezifisch, präzise und klar festzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 2368/06 -, juris Rn. 46 ff.; OVG Lüneburg, Urteil vom 28. November 2023 - 11 LC 303/20 -, juris Rn. 43). Ist der Gesetzgeber gehalten, selbst bestimmte grundrechtsrelevante Fragen zu regeln, so muss er die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll (vgl. VerfGE 2, 307, 334). Für die gebotene Bestimmtheit von Eingriffsbefugnissen kommt es maßgeblich auf das Gewicht des normierten Eingriffs an (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1953 - 1 BvF 1/53 a.a.O.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007 - 1 BvR 2368/06 juris Rn. 47; OVG Lüneburg, Urteil vom 6. Oktober 2020 - 11 LC 149/16 -, juris Rn. 42). Je tiefer eine Maßnahme in die grundrechtlich geschützte Sphäre der Bürger eingreift, desto präziser sind ihre Tatbestandsvoraussetzungen zu fassen (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. November 2023 - 11 LC 303/20 -, juris Rn. 43).

Diesen verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen genügt die streitgegenständliche Regelung des § 41 Abs. 3a SchuIG nach Auffassung der Kammer offensichtlich nicht.

Zwar trägt ihre Einführung im Zuge des Vierten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes dem Vorbehalt des Gesetzes, der sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, in formeller Hinsicht Rechnung. Allerdings fehlt der Norm die Bezeichnung eines materiellen Tatbestands, an dessen Vorliegen die Schulaufsichtsbehörde ihre Entscheidung darüber ausrichten könnte, ob sie das Ruhen der Schulbesuchspflicht anordnet oder nicht. Neben den Verfahrenserfordernissen eines Antrags der Klassenkonferenz, der Anhörung des Schülers und seiner Erziehungsberechtigten und einer Überprüfung „spätestens“ nach drei Monaten besteht die einzige materielle Vorgabe in einer Stellungnahme des SIBUZ, die als „Grundlage“ für die Entscheidung über das Ruhen der Schulbesuchspflicht dienen soll. Offen bleibt, welchen Zweck die Regelung hat, welche Voraussetzungen für ein Ruhen der Schulbesuchspflicht gegeben sein müssen und nach welchen sachlichen Kriterien sich die Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde hierüber oder die zugrunde zu legende Stellungnahme des SIBUZ bestimmt. Unter diesen Bedingungen fehlt jeder greifbare Anhaltspunkt für eine an sachlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Abwägung, die das eröffnete behördliche Ermessen leiten könnte und deren Vornahme gerichtlich überprüfbar wäre. Angesichts der Unbestimmtheit der Norm scheidet auch eine verfassungskonforme Auslegung aus, weil sonst der Gesetzesvorbehalt leerliefe, der Eingriffe in ein Grundrecht einer gesetzlichen Regelung zuweist und den Gesetzgeber verpflichtet, Art und Umfang des Eingriffs selbst festzulegen (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Januar 2003 - 2 BvR 716/01 -, BVerfGE 107, 104 = juris Rn. 97).

Soweit der Antragsgegner vorträgt, die Norm sei als ultima-ratio-Regel für den Fall gedacht, dass der Schulfrieden nachhaltig gestört und alle sonstigen Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen fruchtlos geblieben seien, so könnte in dem Schutz des Schullebens vor gefährlichen Verhaltensweisen eines Schülers zwar ein legitimer Zweck für eine solche, über bereits verfügbare Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen hinausgehende „Sicherungsmaßnahme“ liegen. So sehen entsprechende Regelungen in anderen Bundesländern die Möglichkeit eines Ausschlusses von der Schule trotz bestehender Schulpflicht vor, dies aber dann unter Formulierung bestimmter Gefährdungstatbestände (vgl. etwa § 87 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen; § 53 Abs. 3 Nr. 6 und 7 SchuIG Nordrhein-Westfalen; § 90 Abs. 3 Nr. 2 g i.Vm. Abs. 6 Satz 2 SchuIG Baden-Württemberg) sowie teilweise unter der Festlegung eines trotz des Schulausschlusses fortbestehenden Bildungsangebots (vgl. § 53 Abs. 5 SchuIG Nordrhein-Westfalen). Für eine solche Zweckrichtung und die legislative Intention, als Anwendungsvoraussetzung einen hinreichenden Gefährdungstatbestand zu normieren, bietet die Regelung des § 41 Abs. 3a SchuIG hingegen keine Stütze. Die Fassung des Tatbestands eröffnet der Schulaufsichtsbehörde vielmehr eine freie, sachlich nicht ansatzweise eingegrenzte Ermessensentscheidung. Soweit diese auf der Grundlage einer SIBUZ-Stellungnahme erfolgen soll, hält das Gesetz auch für diese vorgelagerte Stellungnahme des SIBUZ keinerlei Parameter bereit, welche die zu treffende Entscheidung zu steuern geeignet wären. Eine öffentlich zugängliche Begründung für die Regelung durch den Gesetzgeber, der sich ein Zweck und Voraussetzungen für dessen Erreichung entnehmen ließen, liegt nicht vor. Vereinzelt finden sich in den Drucksachen des Abgeordnetenhauses zwar Stellungnahmen der Senatsverwaltung, die eine Einordnung des § 41 Abs. 3a SchuIG als Ordnungsmaßnahme im Sinne des § 63 SchuIG befürworten (vgl. Antwort des Senats auf eine Anfrage des Abgeordneten Düsterhöft, Punkt 4, Abgeordnetenhaus-Drs. 19/13840; ferner Bericht des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung [Berichtszeitraum 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2022], Abgeordnetenhaus-Drs. 19/1318) und die Regelung bei so schwerwiegenden Eigen- oder Fremdgefährdungen für anwendbar halten, dass der Schulbesuch vorübergehend nicht verantwortet werden kann, aber dennoch kein Antrag auf Befreiung von der Schulbesuchspflicht gestellt wird (vgl. Antwort des Senats, Abgeordnetenhaus-Drs. 19/14660 zu 2.). Solche Äußerungen der Verwaltung lassen jedoch keine belastbaren Rückschlüsse auf den gesetzgeberischen Willen zu, und ihnen kommt auch keine verbindliche Bedeutung für die Gesetzesauslegung und -anwendung zu. Darüber hinaus spricht die systematische Verortung des Abs. 3a in § 41 SchuIG - u d gerade nicht in den Bereich der Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen (§§ 62, 62 SchuIG) - schon äußerlich nicht für die genannte Auffassung, und sie findet auch im Gesetzestext selbst keinerlei Ausdruck.

Ein Tatbestand, der ein so hohes Schutzgut wie die Sicherheit der am Schulleben Beteiligten sichern soll, kann zwar, wenn dies der sachliche Kontext gebietet, so offen formuliert sein, dass er möglichst alle Fälle der Gefährdung erfasst. Ein Rückgriff auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe ist jedoch verfassungsrechtlich nur dann zulässig, solange der Zweck der Regelung feststeht, darauf beruhende Präventions- oder Reaktionsmaßnahmen zu diesem Zweck in Verhältnis gesetzt werden und mit den damit verbundenen Folgen für die Betroffenen abgewägt werden können (vgl. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, a.a.O. Rn. 62). Selbst wenn nach der Intention des Gesetzgebers das vorübergehende Ruhen der Schulbesuchspflicht eine Maßnahme zum Schutz eines ordnungsgemäßen Schullebens darstellen sollte, so fehlt gleichwohl jeder Anhaltspunkt dafür, an welchen konkreten oder abstrakten Gefährdungstatbestand die Rechtsfolge geknüpft werden kann und wie sich das Verhältnis zu den (anderen) Ordnungsmaßnahmen des § 63 SchuIG darstellt. Für eine Einordnung der Ruhensanordnung als äußerste Ordnungsmaßnahme bzw. als „ultima ratio“ und damit als gegenüber den § 63 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 SchuIG nachrangiges Ordnungsinstrument spricht wiederum nicht deren systematische Stellung im SchuIG. Ebenso wenig lässt sich eine solche mit hinreichender Bestimmtheit aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ableiten, weil für die entsprechende Proportionalität eines Maßnahmengefüges eine gleichgerichtete Zielsetzung feststehen müsste, die hier jedoch nicht ersichtlich ist.

Ebenso wenig lassen sich schließlich aus der Entstehungsgeschichte ein Zweck und ein tatbestandlicher Anwendungsbereich der Norm erschließen. In der ursprünglichen Vorlage des Senats zur Beschlussfassung an das Abgeordnetenhaus war sie noch nicht enthalten (vgl. Abgeordnetenhaus-Drs. 18/3879). Aus welchen Motiven heraus bzw. mit welcher teleologischen Wirkungsrichtung § 41 Abs. 3a SchuIG schließlich Eingang in die Beschlussfassung gefunden hat, lässt sich offiziellen Dokumenten, soweit ersichtlich, nicht entnehmen. Durch die Unbestimmtheit des Normzwecks und der Tatbestandsvoraussetzungen entzieht § 41 Abs. 3a SchuIG sich ebenso wie die auf seiner Grundlage ergangene Maßnahme vom 5. März 2024 einer Überprüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen seiner Zweckrichtung und den Voraussetzungen einerseits und dem damit verbundenen Eingriff in die Rechte der Antragsteller andererseits.

Soweit der Gesetzgeber bisher den Ausschluss eines Schülers vom Schulunterricht gegen seinen Willen bzw. denjenigen der Erziehungsberechtigten vorsieht, werden hierfür aufgrund der Schwere des Eingriffs hinreichend schwerwiegende Gründe benannt, denen im öffentlichen Interesse der Vorrang einzuräumen ist. Das in § 63 SchuIG geregelte Instrumentarium an Ordnungsmaßnahmen sieht, von der auf zehn Tage zeitlich eng begrenzten Suspendierung abgesehen (§ 63 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SchuIG), bisher nur die Überweisung an eine andere Schule desselben Studiengangs und die Entlassung aus der Schule, wenn die Schulpflicht erfüllt ist, vor (§ 63 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und 5 SchuIG), und dies aufgrund der Reichweite solcher Maßnahmen nur dann, wenn der Schüler in schwerer Weise oder wiederholt die ordnungsgemäße Unterrichts- und Erziehungsarbeit beeinträchtigt oder andere am Schulleben Beteiligte gefährdet (vgl. § 63 Abs. 3 Satz 1 SchuIG). Ein Ausschluss vom Schulbesuch trotz bestehender Schulpflicht zur Sicherung des Schulfriedens ist insoweit nicht vorgesehen. Auch ansonsten ist ein Ausschluss nur unter spezifischen Voraussetzungen, etwa infektionsschutzrechtlich bei ansteckenden Krankheiten möglich (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 2 IfSG). Ob eine über dieses bestehende Regelungsinstrumentarium hinausgehende Norm, die einen Schulausschluss trotz grundsätzlich bestehender Schulpflicht als Ordnungsmaßnahme vorsähe, unter besonders gravierenden Voraussetzungen verfassungsrechtlich möglich wäre, insbesondere unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geeignet und erforderlich wäre, bedarf hier keiner Entscheidung. Gleiches gilt für die Frage, ob ein solcher Ausschluss im vorliegenden Einzelfall in Anbetracht des Umstands, dass der Antragsteller zu 1 in der Vergangenheit unstreitig in erheblicher Weise fremdgefährdende Verhaltensweisen an den Tag gelegt hat, verhältnismäßig wäre. Angesichts des Fehlens einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage vermag sich das öffentliche Interesse an dem sofortigen Vollzug des Bescheides vom 5. März 2024 nicht durchzusetzen.

Die Kammer ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch nicht daran gehindert, angesichts der anzunehmenden Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Maßnahme dem Interesse der Antragsteller, von dem Vollzug der Maßnahme verschont zu bleiben, aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) den Vorrang einzuräumen. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm ist zwar nach Art. 100 Abs. 1 GG bzw. Art. 84 Abs. 2 Nr. 4 der Verfassung von Berlin den Verfassungsgerichten Vorbehalten. Das Bundesverfassungsgericht hat von seinem Verwerfungsmonopol allerdings für Fälle des vorläufigen Rechtsschutzes Ausnahmen zugelassen, in denen dem in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Gebot des effektiven Rechtsschutzes Vorrang vor dem Verwerfungsmonopol zukommt und die Hauptsacheentscheidung nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91 juris Rn. 29). Die Fachgerichte sind durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Vereinbarkeit der jeweils herangezogenen landesrechtlichen Rechtsgrundlagen mit dem Grundgesetz zu prüfen und für den Fall, dass von der Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage auszugehen ist, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011 - 2 BvR 2362/11 juris Rn. 5). Voraussetzung für eine solche ausnahmsweise zulässige Vorgehensweise ist, dass dem betroffenen Bürgereine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch ein Urteil in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnte (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 17. Juni 2013 - 6 S 857/13 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Auch wenn der Nichtanwendung eines Gesetzes im Eilrechtsschutzverfahren insoweit enge Grenzen zu setzen sind, ist die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit möglich (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Dezember 2006 - 2 NB 347/06 - 50, 402; OVG Hamburg, Beschluss vom 10. Oktober 2001 - 3 NC 150/00 RR 2002, 747; OVG Hamburg, Beschluss vom 10. Oktober 2001 - 3 Nc 150/00 -, juris).

Diese eng begrenzten Voraussetzungen für eine Eilentscheidung, die auf der Annahme der Verfassungswidrigkeit der streitgegenständlichen Norm beruht, sind im vorliegenden Fall ausnahmsweise erfüllt. Durch ein Zuwarten bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren, das seinerseits bis zur Entscheidung in einem verfassungsrechtlichen Vorlageverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen wäre, droht dem Antragsteller zu 1 nämlich die Nichtbeschulung für bis zu drei Monate, gegebenenfalls über diesen Zeitraum hinaus, und dadurch ein erheblicher Verlust seines verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs auf Schulteilnahme, weil ihm jeglicher Zugang zum Unterricht verwehrt wird. Da nach § 41 Abs. 3a Satz 4 SchuIG die Anordnung des Ruhens der Schulbesuchspflicht bis zu drei Monate andauern kann, bis sie erneut überprüft wird, und der dem angefochtenen Bescheid beigefügte Wiedereingliederungsplan vor einem ersten Reintegrationsversuch aufgrund der vorgesehenen Schritte (kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik, Schulhilfekonferenz, Einbezug von Jugendamt und SIBUZ, Prüfung der Weiterfinanzierung einer Schulassistenz) eine frühere Beschulung nicht erwarten lässt, droht dem Antragsteiler zu 1 damit der Ausschluss bis zum Ende des Schuljahres 2023/2024. Durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage und die vorläufige Weiterbeschulung des Antragstellers zu 1 wird auch die Hauptsacheentscheidung hier nicht vorweggenommen. Mit dessen vorläufiger tatsächlicher Teilnahme am Schulunterricht einschließlich etwaiger Leistungskontrollen und sonstiger Bewertungen wird über die Erfüllung der curricularen Anforderungen der Jahrgangsstufe noch nicht entschieden, während der Erfolg der Klage im Rahmen des Klageverfahrens und eines etwaigen Vorlageverfahrens abschließend zu beurteilen sein wird. Das Fehlen jedweder tatbestandlicher Voraussetzungen und abwägungsleitender Anhaltspunkte in § 41 Abs. 3a SchuIG stellt nach Auffassung der Kammer einen derart offensichtlichen Mangel dar, dass sie im Einklang mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben im Dienste eines effektiven Rechtsschutzes ausnahmsweise im vorläufigen Rechtsschutzverfahren von der Unvereinbarkeit der Norm mit verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgeht und dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller den Vorrang einräumen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ist auf §§ 39, 52 ff. GKG gestützt, wobei der halbe Auffangstreitwert zu Grunde gelegt wurde.

 

Mitgeteilt von Cornelia Liedtke, Rechtsanwältin bei Werner Rechtsanwälte - Schulrecht Berlin

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